* 40 *

Sie folgten den schleifenden Fußabdrücken, die sich von der Hütte entfernten. Sie führten über eine kleine Steinbrücke, die in Snorris Karte eingezeichnet war, dann einen steilen Hang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter in ein weites Tal. Tiefe Stille herrschte ringsum, als sie im oberen Teil des Tals unter hohen Bäumen durch tiefen Schnee stapften, und kein Windhauch bewegte die Äste. Ein- oder zweimal erhaschten sie einen Blick von dem Gespenst, wie es in der Ferne mit seinem seltsam schlingernden Gang den Hang hinabhastete. Doch mit seinen weißen Kleidern war es im Schnee schlecht auszumachen, und bald wurde sein Vorsprung so groß, dass sie es endgültig aus den Augen verloren.
Die Kompassnadel zeigte weiter in dieselbe Richtung wie die Spur, die zu einem gefrorenen Sumpf im Grund des Tales führte. Hier war es spürbar kälter. Hart gefrorener Schlamm knackte unter ihren Füßen, und ihre Wolverinenpelze blieben immer wieder an hohen schwarzen Schilfrohren hängen, die spitz aus dem Schnee ragten. Bald wurde das Gelände wieder abschüssig, und der Sumpf wich einem breiten, zugefrorenen Fluss, auf dessen Eisdecke das Gespenst mit langen Schlitterschritten dahingeglitten war. Jenna hob Ullr vom Boden hoch und setzte ihn oben auf ihren Rucksack, von wo er, etwas wacklig thronend, mit missbilligender Miene in die Runde blickte. Schlitternd und leicht nach vorn gebeugt, um die Rucksäcke auszubalancieren, setzten sie ihren Weg fort. Bald wiegten sie sich im gleichmäßigen Rhythmus eines Schlittschuhläufers und nahmen auf dem glatten Eis Tempo auf.
Der Fluss wurde breiter, und als sie den tiefer gelegenen Teil des Tales erreichten, sah Septimus, der vorneweg lief, plötzlich eine riesige weiße Nebelwand vor ihnen emporragen. Er hielt sofort an und wurde von Beetle gerammt, und gleich darauf von Jenna und Ullr, der unter lautem Miauen aufs Eis purzelte.
»Autsch!«, rief Beetle, rappelte sich auf und klopfte sich die Kleider ab. »Du hättest uns warnen können, bevor du die Bremse ziehst.«
»Dazu blieb keine Zeit«, erwiderte Septimus. »Seht mal da.« Er deutete auf den Nebel.
Beetle pfiff durch die Zähne. »Wo kommt der denn her?«
»Den habe ich auch gesehen«, sagte Jenna. »Aber ich dachte, das sei Schnee.«
Das stimmte – die Nebelwand hatte genau dieselbe Farbe wie der Schnee. Sie erstreckte sich von links nach rechts, so weit das Auge reichte, und verschmolz übergangslos mit dem weißgrauen Schneehimmel. Jenna konnte Nebel nicht leiden. Er erinnerte sie immer daran, wie sie am Rand der Marram-Marschen einmal in einem magischen Nebel saß und dem Klicken einer Pistole lauschte, die aus wenigen Metern Entfernung auf ihr Herz zielte. »Ob das Gespenst da drin ist und uns auflauert?«, flüsterte sie.
»Nein«, antwortete Beetle. »Seht, da drüben – das Gespenst hat den Nebel früher bemerkt als wir. Das sind seine Fußabdrücke.« Die Spur des humpelnden Gespenstes bog vom Fluss ab, schlug einen Haken und verschwand ein Stück den Hügel hinauf unter Bäumen.
Sie waren noch mit ihrer Umgebung beschäftigt, als ein dumpfes Rumpeln die Erde erbeben ließ. Etwas kam durch den Nebel auf sie zu. »Hört ihr das?«, fragte Jenna mit weit aufgerissenen Augen und erbleichte.
Septimus und Beetle nickten.
»Wegrennen?«, fragte Beetle, der durch die Sohlen seiner Stiefel spürte, wie der Boden zitterte. »Sofort?«
»Wohin denn?«, fragte Jenna und schaute sich um. Für ihren Geschmack sah es nirgends vertrauenerweckend aus.
Septimus schüttelte den Kopf. »Nein ... nein. Das geht vorüber. Hört doch. Es hat aufgehört. Was es auch gewesen sein mag.«
»Was es auch gewesen sein mag«, grummelte Beetle, »ich wäre ihm nicht gern in die Quere gekommen.«
Oben auf dem Hügel, gar nicht weit entfernt, blieb das Gespenst stehen und blickte hinab auf die drei Gestalten, die unschlüssig am Rand der Nebelbank standen. Es schnitt eine Grimasse und verzerrte Ephaniahs Rattengesicht zu einer boshaften Fratze. Nur ein paar arglose Schritte weiter, dachte es, und der Auftrag wäre erledigt gewesen. Sei’s drum – sollten sie ihr Glück eben bei den Foryx auf dem Pfad am Rande des Abgrunds versuchen. Und wenn sie auch den Foryx entgehen sollten, würde es genau das tun, was ihm sein neuer Meister befohlen hatte. Das Gespenst hatte Respekt vor seinem neuen Meister. Unbeholfen wandte es sich ab und stapfte durch den Schnee davon – langsam hatte es genug von diesem schwerfälligen Körper, den es sich aufgebürdet hatte.
Unten auf dem zugefrorenen Fluss betrachtete Septimus den Kompass und schüttelte ihn gereizt. »Mist, Mist, Mist... hör auf!« Doch die Nadel schenkte seinen Worten keine Beachtung und drehte sich weiter wie wild im Kreis. »Jenna«, schlug er vor, »werfen wir lieber einen Blick in die Karte. Ich glaube, wir sind am Rand des Lochs angekommen.«
»Im wahrsten Sinn des Wortes«, brummte Beetle und schluckte. »Seht mal da!« Die Nebelbank bestand aus wallenden, wirbelnden Schwaden, die von unten nach oben stiegen und sich unentwegt gegeneinander verschoben, sodass der Nebel an manchen Stellen sehr dicht wurde und an anderen beinahe aufriss – und durch eine solche lichte Stelle hatte Beetle gesehen, dass der gefrorene Fluss nur ein paar Schritte weiter zu einem Eiswasserfall wurde und über den Rand eines Abgrunds stürzte.
»Oh ...« Septimus taumelte und schloss die Augen. Ein schreckliches Schwindelgefühl schoss von seinen Fußsohlen nach oben in seinen Kopf. Alles begann sich um ihn zu drehen.
Beetle und Jenna traten vorsichtig näher und spähten über den Rand. Nebel wirbelte herauf und rankte sich mit langen Armen um ihre Füße, dass ihnen die Kälte bis ins Mark drang. Beetle schob sich noch ein Stück näher, nahm einen Stein von einem Haufen, der neben dem Wasserfall lag, und warf ihn in die Tiefe. Sie warteten und zählten die Sekunden, bis der Stein unten aufschlug, doch eine ganze Minute verstrich, und sie hatten noch immer nichts gehört. Plötzlich fuhr ein Windstoß in Beetles Mantel und ließ ihn geräuschvoll flattern.
»Beetle!«, rief Jenna und packte ihn am Ärmel. »Du bist zu dicht dran. Komm zurück.« Genau dasselbe hätte auch Beetles Mutter getan. Und wäre es seine Mutter gewesen, so wäre er jetzt sehr bockig geworden und sogar noch näher an die Kante herangerückt– aber nicht bei Jenna. Ein entschieden unbockiger Beetle erlaubte sich, einen Schritt zurückzutreten.
Septimus dachte gar nicht daran, sich dem Rand zu nähern. Er hatte in der Zwischenzeit in sicherer Entfernung einen wunderbar stabilen Baum gefunden und lehnte sich, noch immer leicht duselig, dagegen. So schwindlig war ihm schon lange nicht mehr geworden – jedenfalls seit er den Flug-Charm besaß. Wenn er ihn doch nur hier hätte! Das sah Marcia wieder mal ähnlich – sie hatte ihm den einzigen Gegenstand weggenommen, der ihnen bei dieser Expedition eine große Hilfe gewesen wäre. Er schnaufte tief durch. Nur ein paar Meter entfernt war der tiefste Abgrund, der ihm jemals untergekommen war. Um das zu wissen, brauchte er nicht über den Rand zu blicken – er spürte es, von den Füßen bis in die Haarspitzen. Er wusste es.
Er dachte an ein Sprichwort bei der Jungarmee: Stehst du am Abgrund, halte inne und denke. Jetzt, wo er etwas älter war, schienen die Sprüche, die er damals auswendig gelernt und wie ein Papagei nachgeplappert hatte, einen Sinn zu bekommen, den sie damals noch nicht gehabt hatten. Und so begann er, an einen Baum gelehnt und dem Abgrund nicht zu nahe, nachzudenken. Er dachte über die Queste nach. Er fand, dass er Jenna und Beetle endlich von dem Questenstein erzählen sollte. Er musste ihnen sagen, dass sie ohne ihn weitergehen und ihn seiner Queste überlassen sollten – wohin sie ihn auch führen mochte. Doch der bloße Gedanke, sich von ihnen zu trennen und sie allein nach Nicko suchen zu lassen, war ihm unerträglich. Das konnte er nicht – er konnte es einfach nicht.
Jennas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Sieh mal, Sep«, sagte sie und breitete die Karte im Schnee unter dem Baum aus. Und gleich darauf sagte sie: »Nein, Ullr, setz dich gefälligst woandershin«, und schob die Katze sachte von dem Papier. Ullr blickte unbeeindruckt, hockte sich in den Schnee und begann, sich die Pfoten zu lecken. Jenna kniete sich hin und fuhr mit dem Finger an dem Loch in der Karte entlang. »Komisch«, sagte sie. »Das Loch auf der Karte fängt dort an, wo der Rand eines Abgrunds ist. Fast als wäre es ein richtiges Loch, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich schätze, das Foryxhaus liegt da drüben.« Sie deutete in den Nebel. »Jetzt ergibt alles einen Sinn. Das muss der große Abgrund sein, von dem Tante Ells gesprochen hat.«
Plötzlich rief Beetle: »Seht doch, da ist die Brücke.« Er pfiff. »Und was für eine.«
Weit entfernt zu ihrer Linken konnten sie schwach die Umrisse eines spindeldürren Bauwerks ausmachen, das hoch in die Luft hinaufragte und dann im Nebel verschwand. Es sah schön aus – ein zartes Geflecht aus dünnen Fäden, das wie ein Spinnennetz in der Luft hing. Dann verdichtete sich der brodelnde Nebel wieder, und es war verschwunden.
»Das ist sie!«, sagte Jenna aufgeregt. »Wir brauchen nur noch die Brücke zu überqueren, und schon sind wir da. Ist das nicht toll?«
»Toll«, sagte Septimus, dem das Herz in die Hose rutschte. »Wirklich toll.«
Sie marschierten am Rand des Abgrunds entlang, hielten aber sicheren Abstand, weil Septimus darauf bestanden hatte. Nach einer Weile wurde offensichtlich, dass sie in diesem sonderbaren Land zum allerersten Mal einem richtigen Pfad folgten. Der Schnee sah so aus, als sei er von Tieren und nicht von Menschen festgetrampelt worden, und Septimus fragte sich unwillkürlich, was das wohl für Tiere waren. Doch was für Tiere auch immer, in den Mist, den sie hinterlassen hatten, wollte er lieber nicht treten.
Je weiter der Morgen voranschritt, desto höher stieg die Sonne über den Nebel hinaus, und die dicken Schneewolken am Himmel begannen, sich aufzulösen. Doch der Nebel blieb, regte und bewegte sich neben ihnen wie ein großes, brütendes Tier. Von Zeit zu Zeit glaubten sie, von weit unten, aus den Tiefen des Nebels, ferne Stimmen zu hören. Jenna blieb einmal sogar stehen, überzeugt, sie habe jemanden schreien gehört.
Der Gedanke, dass sie bald die Brücke betreten und in diesen wallenden Nebel würden hinausgehen müssen, beschäftigte alle drei – und ganz besonders Septimus. Er ließ sich absichtlich ein Stück zurückfallen, und während er hinter den beiden Gestalten mit ihren Wolverinenmänteln und Waldrucksäcken – und einer kleinen roten Katze mit aufgeplustertem Fell – hertrottete, beschäftigte ihn noch etwas anderes. Mit großem Widerwillen, aber unfähig, der Versuchung zu widerstehen, fasste er in die Tasche und zog den Questenstein hervor. Er wagte nicht, ihn anzusehen, und kniff die Augen zu – bis ihm wieder einfiel, wie nahe der Abgrund war. Er machte sie schnell wieder auf. Der Stein war gelb. Gelb den Weg dir weist durch Schnee und Eis, dachte er verzagt.
Plötzlich drehte sich Jenna um. »He, Sep. Alles in Ordnung?«
Hastig schob er die Hand wieder in die Tasche. »Ja«, antwortete er mit belegter Stimme. »Bestens.«
Der Pfad führte stetig am Abgrund entlang und beschrieb einen weiten, gleichmäßigen Bogen nach rechts, doch die Brücke blieb die ganze Zeit im Nebel verborgen. Dann jedoch, als sie sich einem gedrungenen, schneebedeckten Baum näherten, der gleich neben dem Pfad stand, tauchten plötzlich zwei hohe Eisenpfeiler aus dem Nebel auf. Groß, schlank und seltsam schön, neigten sie sich, feucht glänzend vom Nebel, kaum merklich nach hinten, und ihre spitz zulaufenden Enden verschwanden in den wirbelnden Schwaden, die aus der Tiefe heraufstiegen. Mit einem beklommenen Gefühl begriff Septimus, dass sie am Ziel waren.
»Mann ...«, flüsterte Beetle. »Seht euch das an.«
Septimus hätte liebend gern auf den Anblick verzichtet.
Die Brücke selbst war eine wenig vertrauenerweckende Konstruktion aus Holzplanken, die über zwei dicke Drahtseile gelegt waren, die sich in einem Bogen nach oben schwangen und im Nebel verloren. Wie lang sie dahinter wohl noch sein mag?, fragte sich Septimus. Waren es nur ein paar Meter oder waren es Kilometer? Er hatte das ungute Gefühl, dass Letzteres der Fall war. Die Krümmung ließ vermuten, dass es ein weiter Bogen war. Es war eine eigenartige Konstruktion. Von der Spitze der Pfeiler strebten vier Seile nach unten. Zwei waren über sie hinweggespannt und endeten weit hinter ihnen im Schnee. Die beiden anderen folgten der Krümmung der Brücke und verschwanden im Nebel. Septimus suchte irgendetwas, das den Namen »Seitenbegrenzung« oder »Geländer« verdiente, aber alles, was er erkennen konnte, waren zwei fadendünne Handläufe. In Albträumen war er schon über solche Brücken gegangen, aber so schlimm war keine gewesen.
Er blickte zu Jenna und Beetle und verspürte eine seltsame Erleichterung, als er sah, dass sich ihre Freude beim Anblick der Brücke ebenfalls in Grenzen hielt. Er wollte gerade vorschlagen, etwas von Sams Proviant zu essen – nur um den schrecklichen Moment hinauszuschieben, da er den Fuß auf dieses Ding setzen musste, das aussah wie eine Häkelarbeit –, als sich in dem Baum hinter ihnen etwas regte.
»Das kostet etwas«, rief eine barsche Stimme von oben.
Sie zuckten zusammen. Seit ihnen Sam Auf Wiedersehen gesagt hatte, hatten sie keine andere menschliche Stimme mehr gehört.
»Ich sagte, das kostet etwas«, wiederholte die Stimme.
Septimus spähte nach oben. »Wo sind Sie?«, fragte er.
»Auf dem Baum. Ich komme runter.«